Ein leichtes Leben ohne Superschwergewicht

Credit Annette Mueck

Als Gewichtheber stemmte sich Matthias Steiner mit Langhantel zu Olympiagold – trotz Diabetes. Ein Gespräch mit dem ehemaligen Spitzensportler über Disziplin, Diät-Schnitten und die richtige Dosis Insulin.

 Bevor Sie bei Olympia und Weltmeisterschaften Ihre Gegner besiegten, stellte sich Ihnen ein ganz anderer Widersacher in den Weg – Diabetes. Sie erhielten Ihre Diagnose im Alter von 18 Jahren. Können Sie schildern, wie Ihre Gefühlslage damals war?

Es war genau einen Tag vor meinem 18. Geburtstag. Das hat das Ganze noch etwas verschärft. Ich freute mich schon riesig auf meine Geburtstagstorte. Stattdessen bekam ich eine Diät-Schnitte mit Kerze drauf! Glückwunsch. Es war einfach unfassbar. Ich konnte mit dieser Diagnose nichts anfangen. Bevor ich überhaupt wusste, was Diabetes Typ1 bedeutet, wurde mir nur gesagt: Diät halten, BE zählen, in den Finger pieksen, um den Blutzucker zu messen, und Insulin spritzen. Täglich! Ich saß mit meinem Vater im Krankenhaus und sah ihn zum ersten Mal weinen. Wir waren alle überfordert.

Mediziner rieten Ihnen sogar vom Sport ab. Ihre Karriere als Gewichtheber schien beendet, bevor sie richtig startete. Warum haben Sie sich gegen den Rat der Ärzte entschieden?

Naja, die Ärzte sind ja in erster Linie da um zu behandeln. Alles, was die Behandlung komplizierter macht, wird nicht empfohlen. Und natürlich ist das schon ein komplexes Thema, wenn der Stoffwechsel durch extreme sportliche Aktivitäten durcheinander gebracht wird. Es fehlt bei vielen Ärzten natürlich auch die Erfahrung auf dem Gebiet. Und es ist bereits 18 Jahre her. Aus heutiger Sicht weiß man da auch schon viel mehr. Zum Beispiel, dass Muskelaufbau gerade bei Diabetes gut ist. Ich mache niemandem einen Vorwurf, sondern ich habe mir über die Zeit einfach die richtigen Ärzte gesucht.

Diabetiker müssen noch mehr als andere Menschen Grenzen beachten. Als Leistungssportler überwinden Sie dagegen Grenzen, die anderen Menschen unmöglich erscheinen. Hat Ihnen die Disziplin als Leistungssportler für die Diszplin als Diabetiker geholfen? 

Ganz klar, ja. Die Disziplin hat mir geholfen. Wobei das natürlich auch umgekehrt gilt. Da ich immer den Diabetes mit einkalkulieren musste, habe ich natürlich sehr auf meinen Körper geachtet. Sonst hätte ich ja einen Leistungsabfall gehabt. Das Interessante aber war, dass mir die Blutzuckerwerte immer ein Feedback zu meinem körperlichen Zustand gegeben haben und natürlich noch heute geben. Wenn mein Körper erschöpft war, weil ich zu viel trainiert hatte, waren meine Werte schlecht. So konnte ich frühzeitig auf die Bremse treten und mich ausreichend erholen.

Erinnern Sie sich an Situationen während eines Turniers, in denen es wegen Ihrer Erkrankung brenzlig wurde?

Ja, vor allem in den ersten zwei Jahren gab es immer wieder Schwierigkeiten. Das ging so weit, dass mir die Hantel einfach unkontrolliert runtergefallen ist. Und ich in der Kürze der Zeit auch nur schwer meine Werte korrigieren konnte, da die Abläufe beim Gewichtheben sehr schnell sind. Ich habe dann versucht, mit Orangensaft auszugleichen. Aber es half nicht mehr viel. Ich musste wirklich lernen, den Stoffwechsel zu verstehen. Denn es geht nicht immer nur um Blutzuckerwerte. Auch eine zu hohe Dosis Insulin hat negative Auswirkungen auf den Muskel. Also man muss da schon sehr in die Tiefe gehen, um leistungsfähig zu bleiben.

Wie offen sind Sie mit Ihrer Krankheit gegenüber Kollegen umgegangen und kennen Sie Sportler, die ihre Diabetes bewusst verschweigen?

Ich bin damit immer sehr offen umgegangen. Allerdings merke ich bis heute, dass es sehr lange dauert, bis jemand diese komplexe Erkrankung versteht, wenn überhaupt. Ja, ich kenne Sportler, die das verschweigen und manchmal verstehe ich es zumindest ein bisschen. Beispielsweise im Fußball. Bei ständigem Trainerwechsel muss jeder Trainer aufs Neue angelernt werden. Wenn er dann zwei gleich gute Stürmer hat, die er aufstellen kann und der eine ist gesund und der andere hat Diabetes. Naja, dann raten Sie mal, wen er nimmt? Trotzdem sehe ich Verschweigen nicht als Lösung.

Der Diabetes ist Ihr täglicher Begleiter – in welchen Situationen verfluchen Sie ihn?

Wenn Termindruck herrscht oder sonst wenig Zeit ist, dann nervt der Diabetes schon mal. Oder abends, Zähne sind längst geputzt, man ist bettschwer und hat einen zu niedrigen Wert. Dann noch eine Kleinigkeit zu essen, nervt total.

Wer oder was waren Ihre Verbündeten bei einem Weg in ein gesundes Leben?

Ich habe nie wirklich ungesund gelebt. Aber wenn Sie die Gewichtsabnahme nach dem Leistungssport meinen, dann war Diabetes definitiv mein Verbündeter. Denn der hat mir klar gemacht, dass ohne Leistungssport 150 Kilogramm Körpergewicht einfach zu viel sind. Aber auch für meine Kinder will ich fit und agil sein und da darf man eine gewisse Gewichtsgrenze nicht überschreiten. Und durch den jahrelangen Umgang mit dieser Stoffwechselstörung wusste ich halt schon, an welchen Rädchen ich drehen kann. Zudem habe ich eine Insulinpumpe, die mir hilft, flexibler zu sein. Seit neuestem trage ich ein CGM-System, das über sechs Monate permanent meine Werte misst. Das macht das Leben mit Diabetes um einiges leichter.

Inzwischen engagieren Sie sich in der Öffentlichkeitsarbeit zu Diabetes – besonders bei Kindern.

Das ergibt sich einfach. Denn je mehr ich über meinen Diabetes berichte, desto mehr Anfragen kommen. Vor allem persönliche. Da treten teilweise Probleme auf, die manche Ärzte nicht gelöst bekommen, weil es eher ein Motivationsproblem gibt als ein körperliches. Und bei Kindern betreue ich dann gleich die ganze Familie. Denn meist können die Kinder ganz gut damit umgehen, aber die Eltern tun sich schwer. Ich will für gute Laune und eine gewisse Leichtigkeit sorgen.

Aufgeklärt sein sollte ja inzwischen jeder. Woran mangelt es nach Ihrer Erfahrung noch beim Thema Diabetes in der Gesellschaft?

Das größte Problem ist, dass Typ1 und Typ2 vermischt werden und gar nicht so sehr hinterfragt wird, worin sich die Typen unterscheiden. Typ2 hat noch immer das „Oma-Stigma“ und betrifft ja „mich“ als jungen aktiven Mittvierziger nicht… Und Typ1 ist automatisch nur Diabetes, siehe Ihre Eingangsfrage. Viele glauben nach wie vor, dass Typ 1 Diabetiker ihre Erkrankung bekommen haben, weil sie in ihrem Leben zu viel Zucker gegessen oder sonst irgendwie ungesund gelebt haben. Dabei ist dieser Typ eine nicht heilbare Autoimmunerkrankung, die häufig bereits im Kindesalter aufritt. Typ 2 ist in den meisten Fällen dagegen heilbar. Hier kann man präventiv so viel machen. Eine kleine Ernährungsumstellung kann da schon helfen, aber für die meisten Menschen bedeutet Abnehmen nur Disziplin. Die Angst vor zu großer Veränderung ist einfach zu groß. Und somit hören wir lieber nicht hin.

Sie haben ganze 45 Kilo abgenommen. Wie fühlt sich das deutlich leichtere Leben heute an?

Genauso wie bis 2004. Bis dahin war ich nämlich genauso schlank und wusste, dass ich mich mit dem Gewichtsklassenwechsel ins Superschwergewicht stark verändern werde. Ich war natürlich trotzdem agil und flink, da ich ja sehr viel Muskeln hatte und täglich unzählige Tonnen bewegt habe. Da war es für mich nur logisch, wieder zu meinem alten Gewicht zurückzukehren. Es war nur erstaunlich, wie schnell man sich an das schwere Gewicht gewöhnt und akzeptiert, es rumzuschleppen. Wenn den Menschen bewusst wird, was kleine Veränderungen bewirken, dann hat es Klick gemacht. Wie jeder das schaffen kann, darüber habe ich zwei Bücher geschrieben, „Das Steiner Prinzip“. Und ich habe ein gleichnamiges Onlineprogramm entwickelt, wo Diabetiker, aber auch stoffwechselgesunde Menschen, die abnehmen wollen, mit mir trainieren können und viel über Ernährung lernen.

Ihren Gewichten haben Sie viel zu verdanken. Stemmen Sie sie privat noch Hanteln – oder liegen die verstaubt in der hintersten Ecke des Kellers?

Ich habe mir geschworen: nie wieder Keller. Ich habe einen Trainingsraum im Erdgeschoß, wo ich einmal die Woche noch Gewichte hebe, aber sonst eher mit meinen Kindern Ball oder mit meiner Frau Inge Badminton spiele. Hauptsache Bewegung, die Spaß macht. Das sollte für jeden das Credo sein.

Womit sündigen Sie dennoch im Alltag?

Also, ich mache das so: Wenn ich schon Unterzucker habe, dann meide ich Traubenzucker und esse eher etwas Süßes, das mir schmeckt. Ansonsten lege ich Wert darauf: Wenn sündigen, dann mit selbstgemachten Torten oder Kuchen. Denn da weiß ich, was drinsteckt!