Mehr Zeit für den ganzen Menschen

Eine Stunde Bewegung am Tag in Schulen, Ärzte mit mehr Zeit und Empathie für Patienten und vor allem: einen langen Atem auf dem Weg zu einer Medizin, die den Menschen nicht als Kostenfaktor, sondern als Ganzen betrachtet. Das wünscht sich Prof. Dr. med. Dietrich Grönemeyer. Ein Gespräch mit ihm.

Sie fordern eine menschliche Medizin – was verstehen Sie genau darunter?

Eine Medizin, in der der Mensch im Mittelpunkt steht. Eine Medizin, in der der Patient mit dem Arzt auf Augenhöhe kommuniziert, von Mensch zu Mensch, aber mit dem Wissen um das Wissen des anderen. Eine Medizin, in der miteinander gesprochen wird, mit genügend Zeit. In dem kein Patient Angst haben muss vor einem „Halbgott in Weiß“, sondern sich aufgehoben fühlt. Überhaupt kann die Bedeutung des Arzt-Patienten-Verhältnisses in der Medizin gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Als Arzt habe ich es ja immer mit dem ganzen Menschen zu tun, mit Körper, Geist und Seele. Besonders schlagend wird diese Forderung nach Vertrauen zwischen Arzt und Patient angesichts eines der Grenzfälle der menschlichen Existenz: dem nahenden Tod. Die sprechende, die empathische Medizin müssen ein Umfeld schaffen, in dem auch der sterbende Mensch in seiner Würde respektiert wird. Hohe Anforderungen an den Arzt sind damit verbunden. Dass zum Leben der Tod gehört und gerade in diesem Kontext das Kunstwerk Leben geachtet sein will, gehört zu den schwierigsten Tatsachen und Aufgaben, vor denen ein Mensch stehen kann.

Der Arzt benötigt hier also nicht die medizinisch-technische Kompetenz im engeren Sinne, sondern auch eine empathische Dialogfähigkeit. Das braucht eine entsprechende Ausbildung, das braucht Zeit in der ärztlichen Praxis, das braucht eine Wertschätzung für die hörende und sprechende Medizin, das erfordert das Verständnis von einer Medizin auf Augenhöhe und den Ausbau der Palliativmedizin. Das erfordert aber auch Supervision der Therapeuten, auch des Arztes.

Denn auch wir Ärzte haben Angst, nicht selten auch vor dem Tod, machen Fehler und sind nicht unfehlbar. Wir alle können sehr schnell zur Patientin, zum Patienten werden – und wünschen uns doch für diese Situation die kompetenteste  und liebevollste Betreuung. Eine partnerschaftliche, vielleicht nicht immer konfliktfreie, doch vertrauensvolle Kommunikation zwischen Arzt und Patient kann den Gesundungsprozess aktivieren und massiv unterstützen.

Zum anderen: Ich selbst bin Schulmediziner, plädiere aber seit langem für ein Zusammenwirken der verschiedenen therapeutischen Methoden, ohne dogmatische Scheuklappen, also Schulmedizin, Hightech, aber eben auch komplementäre Verfahren und Naturheilkunde. So halten wir es auch im Grönemeyer Institut in Bochum oder Berlin. Vieles wäre ja ohne naturheilkundliche Erfahrung nicht denkbar. Das Aspirin unter anderem oder die Vielfältigkeit der Massagen in allen Kulturen.

Und wer wollte schließlich bestreiten, dass wir Schulmediziner hinsichtlich der menschlichen Zuwendung noch manches von den Vertretern der alternativen Medizin lernen können. Weil sie sich die Zeit nehmen, die wir selbst immer weniger zu haben glauben, gehen die Patienten zu ihnen. Diese Bereitschaft, „sich einzulassen“, ist das Entscheidende. Sie heilt oft mehr als die verschriebenen Pillen.

Sogar Placebos zeigen danach erstaunliche Wirkung, wie die Forschung nachgewiesen hat. Sie schaffen aus einem chemischen Nichts, einen biologischen Effekt. Das alles heißt aber nicht – um jeglichem Missverständnis vorzubeugen -, dass hier dem Handauflegen oder irgendwelcher Geisterbeschwörung das Wort geredet werden soll, obwohl auch das in manchen Kulturen seine Bedeutung hat. Nein, darum geht es nicht.

Für die Naturheilkunde gilt selbstverständlich das Gleiche wie für die Schulmedizin: Das heilende Ergebnis der Verfahren muss nachweis- und wiederholbar sein, selbst wenn der Wirkungsmechanismus nicht immer erklärbar sein mag, noch nicht. Wo sie aber helfen können, sollte man die Behandlungsmethoden der jeweils anderen Seite auch gelten lassen. Niemand hat das Recht, irgendeine Möglichkeit der Behandlung sozusagen von vornherein auszuschließen. Das Wohl des Patienten muss immer im Vordergrund stehen, und das ist doch eine wunderbare Aufgabe für uns Ärzte und Therapeuten.

Ärzte sollen sich Ihrer Meinung nach stärker als Seelsorger begreifen. Aber scheitert das bei der Mehrzahl Ihrer Kollegen nicht in der Realität schlicht an Zeit und Geld?

Ja, es gibt immer Probleme mit der Zeit. Aber so richtig möchte ich das nicht gelten lassen, wir haben ja immer zu wenig Zeit. Die Empathie ist das Entscheidende, und diese kann man auch einem Menschen zeigen, wenn nicht viel Zeit da ist.

Lassen Sie mich eine Geschichte erzählen. Vor Jahren bin ich auf einen Text gestoßen, der mich sehr fasziniert hat. Hintergrund ist das Russland des 19. Jahrhunderts – und doch illustriert dieser Text etwas Zeitloses. Leo Tolstoj schildert in „Krieg und Frieden“ eine Szene, nachdem Fürst Andrej eine schreckliche Verwundung im Kampf davongetragen hatte: „Der Arzt beugte sich tief über die Wunde, untersuchte sie und seufzte schwer. Dann gab er jemandem ein Zeichen. Und nun ließ ein quälender Schmerz im Inneren des Leibes Fürst Andrej das Bewusstsein verlieren … als er wieder zu sich kam, waren die zerschmetterten Hüftknochen entfernt, die Fleischfetzen weg geschnitten und die Wunde verbunden. Man besprengte sein Gesicht mit Wasser. Als er die Augen wieder aufschlug, beugte sich der Arzt über ihn, küsste ihn schweigend auf die Lippen und entfernte sich eilig.“

Vor diesem Hintergrund ist mir ein eigenes Erlebnis in Erinnerung: Ich kam spät nachts an einer Unfallstelle vorbei. Drei Sanitätswagen und ein Hubschrauber waren da, ein Verletzter lag völlig allein gelassen auf der Straße. Ärzte und Sanitäter waren dabei, heftig darüber zu diskutieren, in welche Klinik der Patient eingeliefert werden sollte. Dieses Bild hat mich nicht losgelassen. Es veranschaulicht, in welcher Gefahr unser Gesundheitssystem steckt.

Im Kontrast dazu hat das Zitat von Leo Tolstoj für mich eine zentrale Bedeutung, auch wenn uns das Pathos fremd sein mag: Natürlich ist heute nicht vorstellbar, dass ein Arzt einen Patienten küsst. Aber Tolstoj stellt eine solch ausgeprägte Form der Zuwendung und Empathie des Arztes dar, gerade in einer extremen Situation, dass ich diese menschliche Geste einfach unglaublich eindrucksvoll finde. Der Text illustriert für mich, was liebevolle Medizin ist: die mit-menschliche Fürsorge eines Arztes. Jedenfalls macht mich die Geste der Hingabe, die Tolstoj beschreibt, immer wieder nachdenklich.

In der Hetze des medizinischen Alltags, getrieben von Kostendiskussion und Einsparpolitik, verlieren wir oft genug das Wesentliche aus dem Blick. Verwaltungen, Ärzte oder auch Krankenschwestern – eine wesentliche Stütze der Medizin, die immer vergessen wird und unterbezahlt ist – werden mit ständig neuen Erlassen lahmgelegt. Krankenhausabteilungen oder -häuser werden geschlossen und ganze Berufsstände schlecht geredet. Aber in der Medizin darf es nicht vorrangig um Verwaltung, um Ökonomie, um den Arzt als Funktions-Dienstleister oder den Patient als Kostenfaktor gehen: um uns Menschen geht’s. Und wir wollen gesund bleiben oder wohlbefindlich aus einer Therapie entlassen werden. Besonders nach einem Krankenhausaufenthalt!

Wann ist in Ihren Augen ein Mensch gesund und wie spielen Seele und Geist eine Rolle? 

So wie es nicht den einen Menschen gibt, sondern eine unendliche Zahl verschiedener Individuen, gibt es auch nicht die Gesundheit oder die Krankheit. Niemand ist hundertprozentig gesund. Das Absolute war, ist und wird immer ein Ideal bleiben, eine Herausforderung. Tatsächlich leben wir Menschen seit jeher und fortdauernd in einem Spannungsfeld zwischen gesund und krank.

Das wusste schon der jüdische Arzt Maimonides im 12. Jahrhundert; und noch viel früher wurde der Zustand von Platon philosophisch ergründet. Entscheidend ist das subjektive Wohlbefinden. Wie ich manchmal sage: Ein „fitter Dicker“ ist mir lieber als ein „schlanker Schlaffi“. Natürlich ist Bewegung und Sport, gesunde Ernährung und stressfreies Leben wichtig. Aber da gibt es eben sehr unterschiedliche Vorlieben. Mir gefällt deshalb auch die Ernährungslehre im Ayurveda, wo nach verschiedenen Typen eingeteilt und die Nahrung dementsprechend zubereitet wird.

Und dem einen Menschen macht es Spaß, im Fitness-Studio zu trainieren, ein anderer geht lieber tanzen und Fahrradfahren in der Natur. Aber darin liegt eben auch die Verantwortung jedes Einzelnen: Es gibt eben keine Pille, die man schlucken kann, um immer gesund zu bleiben. 

Sie sagen, dass gerade der Rücken uns oft etwas sagen möchte: Was erzählt er uns Menschen denn so?

Der Rücken würde sagen: Denk an mich, nicht erst, wenn dir etwas weh tut! Ich bin ein Wunderwerk, zentral in deinem Körper. Ohne mich könntest du nicht aufrecht stehen! Könntest nicht herausfinden, welche „Last Dir auf den Schultern liegt“ oder was „Dein Kreuz bricht“. Ich schaffe Haltung, aber bin auch ein Sensibelchen und könnte unter einer psychischen Last „zerbrechen“. Aber deshalb meide ich mich auch zwischen durch mit Schmerzen, damit Du aufmerksam wirst.

Als ein zentrales Organ bin ich über zahllose Nervenbahnen mit den verschiedensten Regionen, mit Organen und Gliedmaßen vernetzt. So kann etwa der Fuß schmerzen, obwohl er an sich völlig gesund ist. Denn aus den Wirbeln treten Nervenbündel aus, die zu jeweils unterschiedlichen Bereiche des Körpers führen. Wenn diese Versorgungswege gestört sind, weil etwa eine Bandscheibenläsion oder eine Arthrose in den kleinen Wirbelgelenken die Nerven quetscht, können die Organe betroffen sein. Leider wird dieser im Grunde einfache Zusammenhang bei vielen Diagnosen nicht ausreichend berücksichtigt.

Die geplagten Patienten laufen dann vergeblich von Arzt zu Arzt. Dabei könnte man die Ursache mit einer sorgfältigen Untersuchung oder einem bildgebenden Verfahren leicht erkennen. Schnell würde sich herausstellen: Kopfschmerzen und Schwindelgefühle, aber auch Schlaflosigkeit und Nackenverspannungen können damit zusammenhängen, dass in der Halswirbelsäule Nerven gereizt sind, gerade am Atlaswirbel, wo Nerven liegen, die die Blutzufuhr zum Gehirn steuern. Störungen in der Brustwirbelsäule können sich als Druck und Schmerz in der Herzgegend bemerkbar machen. Was scheinbar auf Herzprobleme hindeutet, hat dann mit dem Herzen selbst gar nichts zu tun.

Oder ein anderes Beispiel für den gleichsam fremdgesteuerten Schmerz: Am obersten Lendenwirbel treten die Nerven aus, die den Dickdarm und die Leisten versorgen. Störungen können Bauchdruck auslösen oder wie eine Reizung des Darms erscheinen. Trauen Sie also nicht immer dem vordergründigen Eindruck. Beobachten Sie sich selbst und sprechen Sie ihren Haus- oder Facharzt auf einen möglichen Zusammenhang organischer Beeinträchtigungen mit dem Rücken an. Moderne Diagnostikverfahren und dann gegebenenfalls ambulante Verfahren wie die Mikrotherapie zur Behandlung können schnell Sicherheit schaffen und helfen, Lebensqualität wiederherzustellen.

Sie sind sehr engagiert in der Aufklärungsarbeit, auch in Schulen. Wie bemerken Sie, ob das positive Auswirkungen hat? Anders gefragt: Besonders beim Dauerthema Diät fällt einem immer wieder auf, dass wir doch eigentlich schon genug Informationen zur erfolgreichen Gewichtsreduzierung haben. Fehlt es den Menschen nicht eher an Disziplin und Motivation, es auch umzusetzen? Ist Information überhaupt der richtige Ansatz?

Trotz vieler Bemühungen – die Volkskrankheiten nehmen zu. Nicht nur bei Erwachsenen. Inzwischen werden auch immer häufiger Kinder zu Patienten. Ohne Zweifel eine der größten gesundheitspolitischen Herausforderungen: der vorbeugende Kampf gegen Fehlernährung, Bewegungsmangel und Übergewicht als Auslöser von Zivilisationskrankheiten. Mehr als 60 Prozent der Erwachsenen, so die Weltgesundheitsbehörde WHO, bewegen sich zu wenig. Jeder Vierte ist völlig passiv. In Deutschland sind rund 37 Millionen Erwachsene übergewichtig, 30 Prozent ernähren sich falsch. Insgesamt sind 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen zwischen drei und 17 Jahren übergewichtig, 6 Prozent aller Kinder sogar krankhaft. Mögliche Folgen sind auch Diabetes, Rücken- und Gelenkschmerzen, Herz-Kreislauf-Probleme.

All das – wie auch der Altersdiabetes, der erschreckenderweise bereits Kinder erreicht – sind Krankheiten, die noch vor wenigen Jahren älteren Jahrgängen vorbehalten waren. Und, ja, leider sind wir Erwachsenen nicht immer die besten Vorbilder: Wir sitzen zu viel, wir bewegen uns zu wenig, wir ernähren uns einseitig. Gerade deshalb ist es wichtig, unser Leben zu hinterfragen, und gerade deshalb plädiere ich für die Einführung eines Gesundheitsunterrichts bereits an Grundschulen. Nicht theoretisch-abstrakt, sondern mit Spaß und vielen Bewegungspausen und Verbindung mit dem Schulsport und bewegten Schulpausen.

Meine langjährige Forderung ist eine Stunde Bewegung an jedem Tag in jeder Schule! Also Information, Sachwissen ja, aber nicht mit erhobenem Zeigefinger. Warum Gesundheitsunterricht bei Kindern? Weil wir wirklich früh anfangen müssen, Verständnis zu wecken für die eigene Gesundheit, den eigenen Körper. Und eben dafür, dass in Fast Food und in Süßgetränken meist unglaublich viel Zucker versteckt ist.

Wenn ich in einer Schulstunde „Wie kommen die Pommes in den Magen“ Kindern verdeutliche, wie viel konkrete Zuckerstücke in einer Cola sind, verstehen die Kinder auf einmal den Zusammenhang zwischen Zucker und Fett ganz anders. Ja, Information ist der richtige Ansatz, aber eben nicht abstrakt, sondern angepasst an die konkreten Lebenssituationen und mit viel Verständnis. Übrigens auch daher mein „Kost-Fast-Nix-Kochbuch“ mit Rezepten für leckere und gesunde Speisen, die aber nicht teuer sind. Im Gegenteil günstiger sind als Essen im Fast-Food-Restaurant. Der lange Atem ist hier einfach notwendig. Und vor allem immer mehr Grundschulen beginnen zu folgen!

Was würde Pädagoge Dietrich Grönemeyer in seinen Lehrplan für einen „Gesundheitsunterricht“ schreiben?

Wissensvermittlung mit Spaß, ohne erhobenen Zeigefinger. In meinen Büchern mit dem „Kleinen Medicus“ habe ich eine Kombination aus Sachwissen und Abenteuergeschichte versucht. Jedes Kind sollte wissen, wie sein Körper funktioniert, und was dieser Körper braucht. Was ihm gut tut und was ihm schaden könnte. Gute Ernährung, viel Bewegung, Spaß am Leben, an Kultur, Musik, an Lernen und Wissenschaft, an der Vielseitigkeit des Lebens, an der Unterschiedlichkeit. Jeder ist einzigartig – auch wenn wir vielleicht andere Hautfarben haben – im Prinzip sind wir alle gleich und besitzen die gleiche Würde. Also auch Gewaltfreiheit und Toleranz würden zum Gesundheitsunterricht dazugehören. Denn Mobbing, Cybermobbing Facebook, Aggression, Gewalttätigkeit gehören zu den aktuellen Themen, immer wieder bringen sich Kinder sogar schon um. Und Bewahrung der Natur, ökologische Themen also.

Lassen Sie mich noch zwei Beispiele herausgreifen. Weil Sie das Thema Diäten ansprachen, auch dies ein Thema für den Gesundheitsunterricht. Immer wieder geistern neue Ernährungsmärchen durch die Medien. Tausende von Ratschlägen, die uns helfen sollen, schlanker zu werden. Verlass ist darauf in den seltensten Fällen. Denken wir nur an die zahllosen Empfehlungen strengen Fastens. Zwar kann man dabei kurzfristig abnehmen. Da aber bei diesen Hungerkuren nicht nur Fett, sondern auch Muskelmasse abgebaut wird, sinkt zugleich der Energiebedarf des Körpers. Die Folge ist, sobald wir wieder normal essen, werden die Kalorien, die der Körper nun nicht mehr braucht, zum Aufbau von Fettpolstern verwendet. Es kommt zu dem sogenannten Jojo-Effekt.

Das heißt, wenn er nicht eine langfristige Ernährungsumstellung nach sich zieht, ist der Versuch, ad hoc abzunehmen, zum Scheitern verurteilt. Die Empfehlung der Fastenkur taugt dann so wenig wie viele andere Ratschläge, etwa die Behauptung warme Mahlzeiten machen dick. Ist doch allein der Energiegehalt der Lebensmittel entscheidend. Ob sie warm oder kalt gegessen werden, spielt keine Rolle.

Auch macht nicht zwangsläufig dünn, was unter dem Label „light“ angepriesen wird. Die Bezeichnung kann für alles Mögliche stehen, für weniger Energie, weniger Koffein, weniger Kohlensäure. Und oft genug verführt sie dazu, mit gutem Gewissen die doppelte Menge zu essen. Wer glaubt, das würde nichts tun, wenn er nur auf das Abendessen verzichte, lässt sich abermals etwas vormachen. Am Ende zählt doch immer die Energiebilanz des ganzen Tages.

So lässt sich auch auf den Holzweg locken, wer der Behauptung glaubt, ohne Frühstück schneller abzunehmen. Hier droht sogar Gefahr für den Körper. Denn tatsächlich ist die erste Mahlzeit des Tages die wichtigste. Sie liefert die Energie, die wir für den Start brauchen, etwa 25 Prozent des täglichen Bedarfs. Wer ganz auf das Frühstück verzichtet, holt sich die fehlende Energie dann Stunden später oft bei Heißhungerattacken zurück – und dann meist mehr als nötig.

Ein anderes Thema, das bei Jugendlichen, also in den höheren Schulklassen, von großem Interesse sein kann, ist das Thema E-Health. Dazu gehören telemedizinische Anwendungen wie die Teleradiologie, internetgestützte Expertenkonsile, die elektronische Registrierung von Vitaldaten, medizinische Apps oder elektronisch unterstützte Arzt-Patient-Gespräche. Beinahe täglich werden neue Anwendungsmöglichkeiten erschlossen, auf die immer mehr Menschen zugreifen. Derzeit nutzen bereits 34 Prozent der sportlich aktiven Frauen und Männer Smartphones zur eigenen Gesundheitsüberwachung. Bei den 14- bis 29-Jährigen sind es schon über 70 Prozent.

Das zeugt zwar von einem erfreulich wachsenden Gesundheitsbewusstsein, birgt allerdings auch Gefahren in sich. Wie bei allem kommt es auf das rechte Maß an. Man kann die Digitaltechnik wirklich sehr sinnvoll anwenden. Wir müssen aber herangeführt und für zur richtigen Nutzung eingewiesen werden, damit Hypochondrismus oder Falschinterpretationen der Daten vermieden werden. Denn kann man sich der Technik bedenkenlos ausliefern, wenn etwa Gewicht, Kalorienverbrauch und Blutdruck ständig gemessen werden, wenn unter dem Bett Sensoren die Schlafbewegungen aufzeichnen und man ständig nachschauen muss, ob man nun wirklich geschlafen hat?

Schon gesunde Kleinkinder werden immer öfter einem solchen „Monitoring“ unterzogen. Und oftmals wirkt dann allein die Fülle der Daten verwirrend. Treffen diese Informationen zudem auf medizinisches Halb- oder Nichtwissen, wird es allemal problematisch. Wenn der Pulsschlag von 60 auf 100 ansteigt, weil man gerade die Treppe hochgeht oder sich freut, dann kann das vom Laien als Symptom einer Krankheit missverstanden werden, ihn unnötig ängstigen oder gar ein hypochondrisches Verhalten nach sich ziehen. Dabei handelt es sich nur um eine ganz normale Folge muskulärer oder psychischer Erregung.

Deshalb sollten die persönlich gesammelten Daten immer mit dem Arzt oder einem anderen kompetenten Therapeuten besprochen und ausgewertet werden. Wer seine Körperdaten im Zusammenhang mit sportlichen Aktivitäten sammelt und dabei Handys, Apps oder Armbänder benutzt, kann und sollte sich in vielen Fällen auch von kompetenten Fitnesstrainern und Sporttherapeuten beraten lassen.

Sehr viel wichtiger als die eifrige Registrierung von Daten sind körperliche Anstrengung, Bewegung, Sport und Spiel, alles, was Freude und Wohlbefinden auslöst. Wer bloß auf Zahlen und Daten schaut, weiß in aller Regel noch nichts über sich und seinen Körper, in jedem Fall aber zu wenig, um sich selbst behandeln zu können. Es besteht sogar die Gefahr, dass er das Gespür für seinen Körper verliert, sich selbst fremd wird. Deshalb nicht zu sehr durch die Technik verführen lassen! Weniger ist mehr – auch beim Herunterladen von Apps! 

Was sagt es über unsere Gesellschaft, dass sogar Kinder an Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht sowie Stress leiden und Meditationskurse belegen sollen?

Wir leben in einer Zeit, in der Leistung, Fitness und Produktivität im Vordergrund stehen, wo alles immer schneller gehen soll, immer besser und immer mehr werden muss. Nur funktioniert das Leben eben nicht nach dem Prinzip des Leistungssports weiter, höher, schneller. Es lässt sich nicht immer alles noch mehr steigern!

Stress treibt uns einerseits an, etwas zu tun. Aktiv zu sein, das eigene Leben zu gestalten, in Bewegung zu sein, körperlich und geistig ist ja notwendig. Aber chronischer negativer Stress ist es eben, der zu Anspannung, dann zur Muskel-Verspannung und dann möglicherweise zu chronischen Schmerzproblemen wie auch Arthrosen der Wirbelgelenke oder Bandscheibenläsionen führen kann.

Der Rücken ist eben auch ein psychosomatisches Organ, alles ist mit dem Rücken verbunden, die inneren Organe durch die Nerven – aber auch alles, was uns seelisch bedrückt, kann sich im Rücken ausdrücken. Also kommt es darauf an, so schnell wie möglich entgegenzuwirken. Ich hatte vorhin schon ein paar Gedanken dazu formuliert. Gegengewichtige sind Bewegung und nochmals Bewegung, positives Denken, sich Zeit nehmen für Dinge, die wir lieben. Und wenn wir merken, dass unsere Kinder in chronischem Stress sind – sofort klären, woran das liegt, was sich konkret ändern lässt. Negativer Stress schafft leider auch noch andere Voraussetzungen für Volkskrankheiten wie Gefäßverkalkungen, hohen Blutdruck, Herzinfarkt, Schlaganfall, Zuckerkrankheit oder Immunschwächen.

Liebe geht durch den Magen, Gesundheit aber auch. Eine Ihrer Schwächen soll die Kombination „Currywurst, Kino, Döner“ sein das dürfen Sie aber nicht in Ihren Büchern schreiben?!

Doch, dazu stehe ich, natürlich habe ich es schon geschrieben, Sie wüssten es ja sonst vielleicht auch nicht? Aber alles in Maßen – eben gelegentlich einmal, sozusagen als ein Ritual, eine Erinnerung an frühere Zeiten, mit Kino kombiniert. Aber dann am nächsten Tag viel Bewegung, Salat und Gemüse. Und im Curry ist viel Gelbwurz, ein sehr heilsames Gewürz gegen Entzündungen, außerdem Koriander, Ingwer, Chili, Kümmel etc. Alles gute Gewürze, um die Verdauung anzuregen. Die braucht man auch bei dem vielen Fett der Wurst und darüber hinaus.

Medizinische Disziplinen sollen interdisziplinärer zusammenarbeiten. Können Sie Beispiele nennen, wo das schon gut funktioniert und wo es noch Nachholbedarf gibt?

In unserem Versorgungssystem zwischen Hausarzt, Fachärzten und Krankenhaus wird meiner Einschätzung nach einem Aspekt noch nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet. Das sind organspezifische Kompetenzzentren, in denen Experten verschiedener Disziplinen im Team zusammenarbeiten, so dass eine sektorenübergreifende Interdisziplinarität entsteht, auch die Brücke zwischen ambulanter Medizin und Krankenhausmedizin.

Solche Kompetenzzentren sollten zur Behandlung von Volkskrankheiten wie Erkrankungen der Wirbelsäule, des Herzens und der Gefäße, der Gelenke, bei Brustkrebs oder Diabetes, für Kinderkrankheiten und so weiter vordringlich auf- oder ausgebaut werden. Auch Krankenhäuser könnten sich unter diesem Aspekt verstärkt themenspezifisch aufstellen und neue Schwerpunkte definieren.

Unter dem Gesichtspunkt Kostenoptimierung geht es dort natürlich darum, kritisch die Krankenhausliegezeit zu reflektieren und die Patientenversorgung möglichst optimal zu „managen“. Aber gerade die Fürsorge und zum Teil auch Seelsorge, insbesondere wenn es sich um einen leidenden, chronisch erkrankten oder schmerzkranken Patienten oder einen vom Tode bedrohten Patienten handelt, ist unter dem finanziellen Gesichtspunkt so gut wie nicht zu erfassen.

Daher halte auch ein reines Fallpauschalensystem, die stationären Erstattungssysteme also, die diesen Aspekt nicht großzügig berücksichtigen, für sehr problematisch und dringend renovierungsbedürftig. Wenn ein Patient das Krankenhaus verlässt, sollte er eigentlich gesund sein und vor allen Dingen auch Kraft bekommen haben, sein Leben wieder positiv zu gestalten. Das ist oftmals nicht der Fall.

Wofür ist ich seit Jahrzehnten plädiere ist eine ganzheitliche, integrative, aber auch personalisierte Individualmedizin – wenn möglich ambulant, von leicht nach schwer. Diesen Ansatz versuchen wir mit einem interdisziplinären Team aus Ärzten und Therapeuten verschiedener Fachrichtungen im Bochumer und Berliner Grönemeyer Institut für Mikrotherapie zu verwirklichen. Und ebenso in Hamburg und stationär in der Abteilung für Multimodale Schmerztherapie in der Fachklinik Ratingen. Ich glaube, dass es funktioniert. Sonst könnten wir nicht das 20jährige Jubiläum des Instituts in Bochum in diesem Jahr feiern.

Übrigens gibt es auch viele Einrichtungen, Arztpraxen, Krankenhäuser, therapeutische Einrichtungen, Pflegeeinrichtungen, an denen ganz wunderbare Menschen mit überzeugenden Konzepten arbeiten, wie in unserer Abteilung für Multimodale Schmerztherapie in der Fachklinik 360Grad in Ratingen. Auf die medizinische Vernetzung kommt es an, auch mit den Hausärzten, Physiotherapeuten, Psychotherapeuten, Apothekern und Naturheilkundlern sowie anderen Berufsgruppen. Deshalb habe ich auch vor kurzem den Impuls zu einer „RuhrMedicinale“ gegeben, eine Veranstaltung zunächst in meiner Heimatregion, dem Ruhrgebiet, wo sich Menschen und Einrichtungen aus der Medizin darstellen und vernetzen können.

Woraus ziehen Sie selbst Ihre Lebensenergie, was hält Sie in Balance? 

Erst einmal verstehe ich dieses Leben als Geschenk, und ich genieße, soweit möglich, jeden Tag. Ich liebe die Menschen, die Natur und das Leben. Und freue mich – selbst in schweren Zeiten – gemeinsam mit anderen Menschen die Welt von morgen mitzugestalten. Aber nicht dogmatisch, sondern mit Toleranz, Respekt und in solidarischen Diskussionen. Und ich weiß, dass man für Veränderung einen langen Atem braucht.

Wie schaffen Sie es, bei Ihrem Terminkalender nicht auszubrennen – oder passiert Ihnen das auch?

Ja, es gibt schon Phasen, wo Termine extrem eng und viel sind. Das geht an mir nicht spurlos vorüber. Ich brauche auch immer wieder mal eine Auszeit, alleine, mit meinen Liebsten oder Freunden – manchmal nur eine Wanderung am Wochenende, ein schönes Kulturerlebnis – manchmal aber auch eine Woche Ayurveda zur Regeneration, körperlich und seelisch.

Ist Dietrich Grönemeyer auch abhängig vom Handy?

Das Handy ist für mich ein Arbeitsinstrument, das inzwischen unverzichtbar ist im normalen Tagesablauf. Zumal ich immer wieder auch Termine an anderen Orten habe, letztlich eine Lesereise in Oberitalien an verschiedenen Orten. Aber die Gefahr des Handynackens kenne ich natürlich. Und soweit ich kann, gestalte ich bewusst Phasen ohne Handynutzung. Bei der ärztlichen Tätigkeit und auch in Schreibphasen kann mich das Handy tatsächlich stören und „rausreißen“. Es bleibt immer häufiger liegen!

Sie hören angeblich gern Musik. Auch als Stimmungsaufheller? Was hören Sie, wenn Sie so richtig schlecht drauf sind?

Ich liebe Musik seit meiner Kindheit, habe ja auch selbst Klavier und Gitarre gelernt und mit meinen Brüdern im Chor gesungen. Bedudeln lassen wie in Kaufhäusern stresst mich total. Mein Geschmack ist breit. Klassischer Musik bis brasilianischer Musik, von Jazz, Soul, Rock’n Roll bis HipHop. Wenn ich richtig schlecht drauf bin, höre ich den Messias von Händel. 

Was wir schon immer mal wissen wollten: Welches ist Ihr Lieblingssong von ihrem kleinen Bruder Herbert – „Mensch“?

Bochum! … ich komm aus Dir, … ich, Dietrich Grönemeyer … bin noch hier!