Lebendes Denkmal

UNESCO-Welterbe der Menschheit, Industriebau-Ikone des frühen 20. Jahrhunderts und mehr als hundert Jahre alte Fabrik, in der bis auf den heutigen Tag Schuhleisten für Globalplayer hergestellt werden – das Fagus-Werk in Alfeld. Hier bestaunen Bewunderer aus aller Welt legendäre Architekturgeschichte mitten im täglichen Produktionsprozess.

Es war im Jahr 1911, als der weitsichtige Geschäftsmann Carl Benscheidt dem jungen und noch unbekannten Walter Gropius den Auftrag erteilte, in der Kleinstadt Alfeld, 50 Kilometer südlich von Hannover, ein Fabrikgebäude für seine Schuhleistenfabrik zu errichten. Als weltweite Novität und ihrer Zeit voraus entwickelte sie sich zum richtungsweisenden Initialbau einer neuen Architektur und Avantgarde, die sich in den folgenden 1920er Jahren als „Bauhausstil“ etablierte. Sie läutete den Siegeszug einer neuen Formensprache ein.

Kongenial trafen dafür zwei Persönlichkeiten aufeinander: Den fortschrittlichen und innovativen Unternehmer Benscheidt verband mit dem freigeistigen und ambitionierten Jungarchitekten Gropius die Idee von der modernen Fabrik, die sie im Gesamtkunstwerk schufen. Zu Zeiten der Industrialisierung im späten Deutschen Kaiserreich malochten die Arbeiter noch in Akkordarbeit in düsteren, fensterlosen Hallen. Benscheidt und Gropius traten an, um das zu ändern. Ganz Lebensreformer wollten sie nicht weniger als ein humanes Gebäude schaffen. „Unser Reichtum sind nicht unsere Maschinen und Gebäude, sondern das Wissen und das Können und die Einsatzbereitschaft unserer Mitarbeiter“, so Carl Benscheidt.

Die perfekte Fabrik war für ihn ein funktionaler Industriebau, der vorbildlich unter fairen Arbeitsbedingungen die Belange der Mitarbeiter berücksichtigte. Wie Gropius war er davon überzeugt, dass die Arbeitswelt eine Reform „von oben“ benötige – und zwar nach ethischen wie ästhetischen Gesichtspunkten. „Der Arbeit müssen Paläste errichtet werden, die dem Fabrikarbeiter, dem Sklaven der modernen Industriearbeit, nicht nur Licht, Luft und Reinlichkeit geben”, so Walter Gropius, „sondern ihn noch etwas spüren lassen von der Würde der gemeinsamen großen Idee, die das Ganze treibt.“

Gesagt, getan. Nicht in Metropolen wie Berlin oder New York, sondern mitten in der südniedersächsischen Provinz schufen sie so vor mehr als 100 Jahren einen Schlüsselbau der Moderne. Das Außergewöhnliche für damalige Fabriken: Die Bauelemente Glas, Stahl und Stein verleihen dem Fabrik- und Verwaltungsgebäude eine schwerelose Eleganz. Seine klaren Linien, die puristischen, kubischen Formen sowie große Fenster lassen es in seiner sachlich-zurückhaltenden Ästhetik fast schmal aussehen. Massive wie transparente Bauweise zeichnen im Wechselspiel die lange Fassade aus.

Geradezu revolutionär war die offene Ecke des Gebäudes: Sie ist stützenlos, vollverglast und elementar für die neue Formensprache, die in Zeiten des wilhelminischen Prunks alles andere als Mode war. Mit ihr startete die Skelettbauweise, die heute an jedem Wolkenkratzer der Welt zu finden ist. Weiteres architektonisches Highlight ist die großflächige Vorhangfassade der Außenhülle, deren Pfeiler nach oben hin schlanker werden. Fröhlich und lebendig wirkt sie aufgrund des hell ausgefugten Verblendmauerwerks aus ledergelben Klinkern über dem schwarz-violetten Sockel.

Von den breiten Fensterfronten profitieren aber nicht nur die Betrachter draußen, sondern besonders die Mitarbeiter drinnen: Die Fronten lassen reichlich Licht herein und schaffen in dem dreigeschossigen Werkstattgebäude sowohl in der Produktionshalle, als auch den Büroräumen eine freundliche Arbeitsatmosphäre. Ganz im Sinne der Bauhaus-Schule, die Gropius Jahre später in Weimar mit begründete, steht der Mensch im Mittelpunkt. Und die Architektur passt sich zweckmäßig seinen Bedürfnissen an. Charakteristische Elemente, die später den internationalen Stil bestimmen werden, finden sich aber auch in der Innenarchitektur. So enthält der Bau im Eingangsbereich die erste freischwebende Treppe seiner Zeit.

Für eine Werbekampagne erhielt der Industriefotograf Albert Renger-Patzsch 1928 den Auftrag, die Fabrik in freier Motivwahl abzulichten. Seine populären Fotos verfestigten endgültig den Gründungsmythos. In seinen Bildern mit streng angeordneten Senkrechten und Waagerechten verewigte er aber nicht nur das Fagus-Werk. Im neusachlichen Fotostil der 1920er Jahre widmete er sich in Nahaufnahmen den Arbeitsmaterialien wie beispielsweise Schuhbügeleisen oder Schuhleisten. Aus ihrer Alltagswelt gerissen, wirken diese wie rätselhafte Objekte – und sind inzwischen weltberühmte Motive, die die Produktfotografie beeinflussten.

Auch heute hat der architektonisch kühne Bau nichts von seiner ästhetischen Anziehungskraft verloren. Und noch immer stellen Mitarbeiter in der Fabrik Schuhleisten her. Nur die Kunden sind inzwischen andere: Designer von namhaften Herstellern wie Adidas, Nike, Lloyd, Birkenstock oder Ecco präsentieren vor Ort ihre Entwürfe. Diese setzen die Modelleure in der angrenzenden Werkstatt sofort in Leisten um. Diese Roh-Leisten werden im Fagus-Werk nach wie vor traditionell aus dem leicht zu bearbeitenden Holz der Buche – lateinisch „fagus“ – hergestellt. Während des folgenden digitalen Entwicklungsprozesses wirft der Kunde computerunterstützt auch einen Blick auf 2D- oder 3D-Visualisierungen der haptischen Muster.

Deren exakte Maße werden nach der Freigabe in die 3- bis 5-Achs-Fräsen eingegeben, die die Serienformen für die Produktion inzwischen präzise aus Kunststoff herstellen – in wenigen Minuten und mehrere Tausend im Jahr. Im späteren Produktionsprozesses eines Schuhs legt man das angefeuchtete Leder dann über den jeweiligen Leisten und befestigt es an der Sohle. Ist das Leder trocken, nimmt man den Leisten heraus und der Schuh hat seine spezielle Form angenommen. Mit den ersten Drehbänken des 19. Jahrhunderts ließen sich die Leistenmodelle wie im Fagus-Werk irgendwann maschinell kopieren. Für bis zu 50.000 Schuhe kann eine Leisten verwendet werden, ohne dass sich ihre Form verändert.

Natürlich hat auch vor dieser traditionsreichen Handwerkskunst die Globalisierung nicht Halt gemacht: Längst ist der Schuhmarkt in asiatische Billiglohnländer abgewandert. Das Fagus-Werk hat sich mit seinen rund 50 Mitarbeitern auf die Marktlücke der robotergerechten Leisten konzentriert. Die anderen 450 Kollegen des Familienunternehmens „Fagus-GreCon GmbH & Co. KG“ stellen weltweit führende Messtechnik und Brandschutzsysteme sowie Keilzinkanlagen her. Dieser Unternehmensbereich – mittlerweile von einem Urenkel Bescheidts geleitet – entstand bereits 1920. Er ist in neuzeitlichen Gebäuden überall auf dem Firmengelände ansässig.

Diese benötigen allerdings ein paar Meter Abstand zum Fagus-Werk. Denn das stand bereits 1946 unter Denkmalschutz. Auch hier trat die Nachfolgegeneration von Carl Benscheidt ein schweres Erbe an. Denn der Zahn der Zeit nagt selbst an einem legendären Monument. Die Geschäftsführung entschied sich deshalb 1982 für die dringend notwendige Restaurierung. Unter laufendem Betrieb verlief sie 20 Jahre lang mit mehreren Millionen Gesamtkosten, an denen sich Bund sowie das Land Niedersachsen mit Fördermitteln beteiligten. Beharrlich, mit viel Liebe zum Detail und unter den strengen Augen der Denkmalschützer überholte man so die marode Fabrik.

Und wurde im Juni 2011 gekrönt, vermeldet sogar in der ARD-Tagesschau: 100 Jahre nach seiner Erbauung erklärte die UNESCO das Gebäude als bewahrenswert für die Menschheit und somit zum Weltkulturerbe. Bis heute ist das Fagus-Werk die weltweit einzige Welterbestätte, die noch im vollen Betrieb ist. Jährlich pilgert nun ein Besucherstrom von rund 20.000 Menschen über das Gelände. Ob gemütliche Landfrauen aus Niedersachsen oder fotografierende Architekturstudenten aus Japan – Bewunderer aus aller Welt kommen in ganzen Busladungen. Sie goutieren, dass das Unternehmen jeden Tag sozusagen eine Art Tag der offenen Tür pflegt – für die historische Werks-Erkundungstour in Gruppenführung oder allein mit Audioguide. Die Mitarbeiter haben sich längst daran gewöhnt, dass ihnen während der Arbeit zuweilen ein Trupp Touristen über die Schulter schaut.

Ein UNESCO-Besucherzentrum informiert die Besucher zusätzlich mit einer multimedialen Ausstellung über die Geschichte des Baus und lädt dazu ein, weitere Welterbestätten an einer – besonders bei Schulklassen beliebten – Medienwand zu erkunden. Im ehemaligen Lagerhaus gibt es auf fünf Etagen und insgesamt 3.000 Quadratmetern eine Fagus-Gropius-Ausstellung: Sie klärt in elf Ausstellungsbereichen über die Geschichte des Unternehmens sowie über industrielle Massivholz-Verarbeitung und die Schuhmode im Wandel der Zeit auf. Die Fagus-Galerie wiederum präsentiert Sonderausstellungen zu Themen aus der Kunst- und Designwelt.

Skurriles Highlight: Wer schon immer mal die ausgelatschten Treter von Angela Merkel, Frank-Walter Steinmeier, Till Schweiger, Leni Riefenstahl, Luis Trenker und anderen Prominenten sehen wollte, kommt auf seine Kosten. Sie sind als Leihgabe in Glaskästen zu bestaunen. Auch das Fagus-Gropius-Café lädt Besucher zum Verweilen ein. Seit 1996 ist das Werk Ort für zahlreiche Kulturveranstaltungen wie die niedersächsischen Musiktage, Lesungen sowie Vorträge. Ebenfalls für private Feiern oder Tagungen lassen sich die Räumlichkeiten mieten.

Jenseits der nahegelegenen Bahnschienen, die zwischen Hannover und Kassel verlaufen, kann der Besucher draußen auf dem Werksgelände außerdem einen Blick auf ein Gebäude des Unternehmens C.Behrens werfen. Der Bau ist ebenfalls ein Relikt aus alten Zeiten. Mitte des 19. Jahrhunderts war diese Firma noch Marktführer für Schuhleisten, die sie als Geschäftszweig aber längst aufgegeben hat.

Kein Geringerer als der damals 29-jährige Carl Benscheidt hatte 1887 als technischer Direktor maßgeblich zu ihrem Erfolg beigetragen. Nach Behrens’ Tod geriet er jedoch in Streit mit dessen Erben. Die meinten: „Machen Sie uns doch Konkurrenz, aber dazu sind Sie zu feige!“ Sie irrten. Benscheidt blieb zwar bei seinen Leisten – allerdings Jahre später mit eigener Produktion im Fagus-Werk. Der Rest ist begehbare Geschichte.